#1 – Frühstück mit Fragezeichen
Der Morgen tastete sich vorsichtig durch Johanna Webers Wohnung – ein schüchternes Licht, das sich an den Rändern der Vorhänge entlangschob und helle Schlieren auf den Boden warf. Es roch nach Papier, nach altem Holz und dem letzten Rest Kaffee vom Vorabend.
Jo, wie sie einfach genannt wurde, stand barfuß in der Küche, rührte in einem Becher kalten Mokka, mehr aus Gewohnheit als aus Genuss. Newton hatte sich auf dem Sessel zusammengerollt, ein Wollknäuel mit Ohren. Die Welt war noch ruhig, als wolle sie ihr Zeit lassen.
Im Flur blieb Jo stehen, der Becher in der Hand. Der antike Spiegel ihrer Großmutter hing schief über der Kommode, das Glas leicht getrübt. Sie warf einen Blick hinein. Eine kastanienbraune Strähne hatte sich aus dem Knäuel gelöst, das mal ein Dutt sein sollte. Sie strich sie zur Seite, rückte die Brille zurecht, sah sich an, wie man einen Fremden betrachtet.
Dreißig. Und manchmal fühlt es sich an wie ein Testlauf für später.
Sie wandte sich zum Gehen – doch stoppte. Im unteren Rand des Spiegels hatte sich etwas Fremdes eingeschlichen. Ein feiner Streifen, fast unsichtbar.
Jo trat näher an die Tür. Dort lag ein Umschlag, fein und cremefarben, nur halb durch den Spalt geschoben.
Sie beugte sich, hob ihn auf. Er war kühl in der Hand, fast feierlich. Ein blaugraues Band umschloss ihn, kein Absender, kein Wort. Nichts.
„Und du, Newton?“ Sie sah zu dem grau-getigerten Kater hinüber, der nur mit einem Ohr zuckte. „Mal wieder nichts gesehen, was?“
Er antwortete mit einem Gähnen und einem Strecken, das klarmachte: Post ist nicht meine Abteilung.
Vorsichtig löste Jo das Band und zog eine Karte heraus. Ein einzelnes, vergilbtes Foto. Sie drehte es langsam zwischen den Fingern, während ein leiser, kaum merklicher Schauder über ihre Haut lief. Das Bild zeigte ein altes Gartentor – gusseisern, halb geöffnet, überwuchert von Efeu und wildem Klee. Dahinter ein schmaler, moosbewachsener Pfad, der sich in etwas Verborgenes verlor.
Auf der Rückseite stand in leicht verblichener Schrift ein einzelner Satz:
„Beantworte die Frage, bevor sie jemand anders stellt.“
Jo zog die Stirn kraus. Keine Unterschrift, keine Erklärung. Nur diese seltsame Botschaft, die irgendwo tief in ihrem Gedächtnis zu klingen begann. Für einen Moment sann sie nach. Ein Moment, der wie Stunden vorkam. Geschockt zum einen und suchend zum anderen.
In diesem Moment vibrierte ihr Handy. Auf dem Display leuchtete eine Nachricht von Lexi auf:
„Du hast versprochen, heute früh zu kommen. Jubiläum! Und die Kaffeemaschine zickt! ♥“
Jo atmete tief durch, schüttelte den kurzen Anflug von Unbehagen ab und legte das Foto zurück in den Umschlag. Später. Sie hatte Lexi zugesagt – und heute war kein Tag, um Versprechen zu brechen. Sie griff nach ihrer Tasche, warf Newton einen letzten Blick zu und öffnete die Wohnungstür.
Die Karte mit dem seltsamen Foto lag still auf der Kommode, wartend wie ein Gedanke, der noch nicht zu Ende gedacht worden war.
Draußen empfing sie kühle Morgenluft, der Himmel lag noch grau über Berlin. Auf dem Weg zum „Kaffeeklatsch“ flackerten die Straßenlaternen in müdem Gelb, ihre Schuhe knackten auf dem feuchten Asphalt. Die Stadt wirkte langsam, als hätte sie noch nicht entschieden, ob sie wirklich wach werden wollte.
Beim Eintreten ins Café schlug ihr die warme Luft entgegen, vermischt mit Kaffeeduft und dem Aroma frisch gebackener Croissants. Lexi stand mitten im Raum, auf Zehenspitzen balancierend, um eine Girlande mit Papierlaternen aufzuhängen. Ihre türkisfarbenen Haare waren wie immer wild zusammengeknotet, die Schürze von Mehl bestäubt.
„Da bist du endlich!“, rief Lexi erleichtert. „Ohne Kaffee ist Jubiläum irgendwie schwer machbar.“
„Ist es so schlimm?“, fragte Jo lächelnd und stellte die mitgebrachte Dose Brownies auf den Tresen.
„Frag lieber nicht“, meldete sich Yara aus dem Hintergrund. Sie hatte sich eine dicke Wollstrickjacke übergezogen, das dunkle Haar lag in lockeren Wellen um ihre Schultern. Vor ihr standen leere Kaffeetassen, die sie vergeblich versucht hatte zu füllen. „Lexi behauptet, die Maschine hätte plötzlich moralische Bedenken.“
„Vielleicht eher physikalische“, sagte eine tiefe Stimme von der Tür. Prof. Karl Hoffmann trat herein, wie immer in seinem leicht verknitterten Mantel, die hellen Haare ein wenig zerzaust. Sein Blick glitt über die Szenerie, aufmerksam, fast amüsiert. „Moralische Krisen sind selten bei Haushaltsgeräten.“
Felix kam kurz darauf herein, unter einem Arm einen Stapel Bücher für die Leseecke. Der lange Schal flatterte hinter ihm her, die Brille war beschlagen von der feuchten Morgenluft. „Schon wieder Kaffee-Drama?“
Lexi zeigte nur stumm auf die Espressomaschine, die leise zischte und hustete.
Karl trat näher, zog die Brille aus der Manteltasche und beugte sich darüber, wie ein Arzt bei einer Diagnose. „Klassischer Fall von Kesselstein“, stellte er fest. „Hartes Wasser hinterlässt Kalkablagerungen – Calciumcarbonat, um genau zu sein.“
Lexi seufzte laut auf. „Und das ist unheilbar?“
„Nein, zum Glück nicht.“ Karl öffnete mit vorsichtigen Handgriffen das Gehäuse. „Man löst es am besten mit Essigsäure. Haushaltsessig genügt. Die Säure reagiert mit dem Calciumcarbonat, wandelt es in lösliches Acetat und Kohlendioxid um. Das sieht dann nach Chemielabor aus, wirkt aber Wunder.“
„Und du bist sicher, dass die Maschine dann überlebt?“, fragte Yara skeptisch.
„Wenn man sanft genug vorgeht, sogar blendend.“
Jo beobachtete, wie Karl mit ruhigen, erklärenden Bewegungen die Teile der Maschine reinigte. Er wirkte zufrieden, als hätte er genau diesen Moment vorhergesehen – Professor und Espressoflüsterer zugleich.
Während der erste Kaffee endlich wieder duftend in die Tasse lief, applaudierte Lexi fröhlich. „Mein Held des Tages!“
Jo setzte sich an ihren Lieblingsplatz nahe dem Fenster. Sie zog ihr Notizbuch hervor, notierte mit einem kleinen Lächeln: Wissensfrage des Tages – Wie entfernt man Kesselstein aus einer Espressomaschine?
Der Nachmittag wurde heiter. Gäste kamen und gingen, Lachen mischte sich mit Jazz aus den Lautsprechern. Felix diskutierte mit einer Kundin über Bücher, Yara servierte Tee, während Lexi glücklich das Jubiläum genoss.
Als Jo am Abend zurückkam, lag ihre Wohnung still und dunkel da. Newton begrüßte sie müde schnurrend und rieb seinen Kopf an ihren Beinen. Sie schaltete das Licht ein und sah sofort wieder den cremefarbenen Umschlag auf der Kommode.
Er wartete. Genau dort, wo sie ihn gelassen hatte.
Sie nahm ihn wieder zur Hand, öffnete vorsichtig die Lasche und zog das Foto heraus. Schwarzweiß, körnig, alt – darauf ein gusseisernes Gartentor, halb verborgen hinter rankenden Pflanzen, leicht geöffnet, wie eine Einladung ins Unbekannte. Im Hintergrund erkannte sie vage einen alten Apfelbaum.
Sie betrachtete das Bild eine Weile schweigend, das Gefühl von Erinnerungen drückte in ihrer Brust. Ihre Finger glitten fast unbewusst über die Rückseite des Fotos, wo die Worte standen:
„Beantworte die Frage, bevor sie jemand anders stellt.“
Am unteren Rand fiel ihr jetzt erst die winzige Prägung auf. Eine Zahl, fein, kaum sichtbar: 27.
Jo atmete tief ein. Die Zahl hallte in ihrem Kopf wider, löste eine flüchtige Erinnerung aus – ein Bild ihrer Großmutter, deren Bücher und der seltsame, silberne Schlüssel in der zweiten Schublade ihres Sekretärs.
Sie öffnete langsam die Schublade. Da lag er, unberührt, still, wartend.
Und plötzlich fühlte es sich an, als wären Foto, Schlüssel und diese eine Zahl keine Zufälle, sondern die vorsichtigen Zeichen eines Geheimnisses, das ihr gerade erst begonnen hatte, die ersten Fragen zu stellen.
Fortsetzung folgt …